Erzählabend mit Erinnerungen und Überlieferungen

Der zweite Erzählabend mit Erinnerungen von Zeitzeugen, Forschungen und Überlieferungen aus der NS-Zeit fand am 04.11.2024 unter großer Beteiligung und lebhaftem Austausch statt.

Rüdiger Fellmann, geboren 1930 in Mönchzell bei Sinsheim, erinnert sich noch detailreich an die Jahre des Nationalsozialismus und ihre Auswirkungen auf dem elterlichen Hof Mönchzell in der Nähe von Sinsheim. Die Familie Fellmann kam 1710 aus der Schweiz und lebte seither als Pächter auf Höfen zunächst in der Rheinebene, ab ca. 1800 im Kraichgau.

Zu Begegnungen mit Juden: Rüdigers Vater und Großvater handelten mit jüdischen Viehhändlern. Rüdiger erinnert sich, dass sein Vater mit einem Viehhändler aus Neidenstein im Wohnzimmer handelte und seine Mutter ihm danach Vorwürfe machte aus Sorge, dass er im „Stürmer“, der Hetzzeitung der SS, dafür angeprangert würde. Mit einem jüdischen Viehhändler in Ostfriesland hatte Heinrich Fellmann eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit. Anfangs fuhr Heinrich zum Kauf nach Ostfriesland, dann bestellte er telefonisch, weil die Lieferungen immer sehr zufriedenstellend waren. Abrupt endete die Verbindung eines Tages. Mit dem nachfolgenden arischen Viehändler wurde das Vertrauensverhältnis nicht mehr so gut. Heinrich musste wieder nach Ostfriesland reisen. Rüdigers Schwestern hatten Klavierunterricht bei einer jüdischen Frau in Meckesheim, der plötzlich endete. Von einem seiner Onkel hörte Rüdiger, die Juden hätten die Bauern erpresst. Solche Äußerungen hörte er von seinen Eltern nicht. Nach dem Krieg hatte Rüdiger mit einem jüdischen Altwarenhändler geschäftlichen Kontakt. Vor etwa 10 Jahren lud Rüdigers Frau Lieselotte Spaziergänger von der Straße zum Kaffee ein. Es waren Juden auf Deutschland-Besuch. Beim Abschied luden sie Fellmanns zu einem Besuch nach Tel Aviv ein. Rüdigers Nichte heiratete einen Rabbiner aus Londen und konvertierte zum jüdischen Glauben. Im Rückblick scheint es Rüdiger, als hätten die Mennoniten gewisse Sympathien gegenüber den Juden entwickelt. Beide waren kleine abgesonderte Gruppen. Selbstironisch gab es den Spruch „Mennoniten und andere Juden“.

Zur NS-Zeit: Rüdigers Eltern waren fromme Menschen. Sein Vater war Landwirt, Prediger und Ältester der Mennonitengemeinde Sinsheim. Im ersten Weltkrieg leistete er Sanitätsdienst. Er wurde dann freigestellt, um im Hofgut Schwaigern, dessen Chef eingezogen war, die Leitung zu übernehmen. Die Zeit der Weimarer Republik war für die Landwirtschaft schwer und die „Schmach von Versailles“ war präsent. Man erhoffte sich von Hitler, dass er alles wieder in Ordnung bringe und fürchtete den Kommunismus, der das Christentum verleugnete und in Russland verfolgte, und wählte wohl deshalb Hitler. Rüdigers Vater Heinrich trat noch 1937 in die Partei ein. Er war ab 1934 nebenberuflich Bürgermeister von Meckesheim und nach dem Krieg wieder ab 1950 bis zum Lebensende 1958. Er war im Dorf beliebt und eine Respektsperson. Nach dem Krieg erfuhr Rüdiger, dass sein Vater über drei Pesonen seine schützende Hand gehalten hatte. Sein Ratsschreiber, zugleich überzeugter nationalsozialistischer Ortsgruppenleiter, respektierte den Bürgermeister und zeigte ihn nicht an. Als es einmal Übergriffe auf die Zwangsarbeiter gab, konnte Heinrich Fellmann diese ein für allemal einstellen. Bei Kriegsende gab es in Mönchzell keinerlei Unruhe oder Rache seitens der Russen oder Polen. Die männlichen Jugendlichen ab 14 Jahren sollten noch am Kriegsende nach Bayern verbracht werden. Heinrich Fellmann ignorierte den Befehl. Als er sich am vorletzten Tag des Krieges widersetzte, die Pferdegespanne des Dorfes zu requirieren, die für die Frühjahrsbestellung freigestellt waren, drohte ihm der deutsche Hauptmann die standrechtliche Erschießung an. Schließlich holten die Soldaten die Pferde selbst aus den Ställen.

Zwangsarbeiter in Mönchzell: Unterlegt durch Fotos berichtete Rüdiger Fellmann über das Leben, Arbeiten und Spielen mit polnischen und russischen Zwangsarbeitern und deren Kindern. Ab 1940 ersetzten zwei Polen die zum Kriegsdienst eingezogenen Mitarbeiter. Sie mussten ein „P“ am Revers tragen.  Ab 1942/43 kamen auch russische Männer und Frauen als Zwangsarbeiter, mit sieben Kindern. Genannt wurden sie Zivilarbeiter. Sie mussten Aufnäher „Ost“ an der Kleidung tragen. Ein sehr geschickter Schmied führte viele Reparaturen aus, auch am Spielzeug der Kinder. Dass sie auf dem Hof zufrieden waren, soll nicht verharmlosen, unter welchem Druck diese Menschen standen und welches Leid sie erlitten. Nach Kriegsende fuhren sie schnell nach Hause. Ihr Schicksal ist ungewiss. Ob sie wie andere Zwangsarbeiter zu Hause wegen Kollaboration angeklagt wurden, ist nicht bekannt. Nur Viktor, ein mit Rüdiger etwa gleichaltriger Junge, schrieb während der Perestroika einen Brief aus Petersburg. Er dankte dafür, dass er bei Rüdigers Vater arbeiten gelernt habe und lud zum Besuch ein. Leider starb Viktor, bevor Fellmanns in Petersburg ankamen. Mit Viktors Frau und Kindern besuchten sie sein Grab auf dem riesigen Friedhof von Petersburg. Er hatte all die Jahre unter Beobachtung des NKWD, des sowjetischen Innenministeriums, gestanden.

HJ-Einsatz im Elsass: Im August 1944 wurde der 14jährige Rüdiger mit vielen begeisterten Hitlerjungen mit dem Sonderzug in die westlichen Vogesen gefahren. Vier der Jugendlichen starben bei einem Angriff von Jagdbombern. Das gab eine große Ernüchterung. In Plainfaing mussten sie einen 4 m tiefen und oben 8 m breiten Graben quer durch ein Tal ausgraben. Nach gut vier Wochen fuhren sie in den Nächten per Zug über Strasbourg nach Hause.

Die Präsentation mit weiteren Informationen gibt es bei Rüdiger Fellmann <rlfellmann@online.de> oder Elisabeth Kludas <Elisabeth.Kludas@t-online.de>

Walter Kaufmann, geboren 1937 in Bad Krozingen bei Freiburg war 2 Jahre alt, als sein Vater Rudolf Kaufmann 1939 in den Sanitätsdienst zum Frankreichfeldzug eingezogen wurde. Aus mennonitischer Überzeugung leistete er keinen Dienst an der Waffe. Eindrücklich vermittelte Rudolf seinem Sohn, nie Soldat zu werden. So geprägt verweigerte Walter Kaufmann den Wehrdienst und wurde anerkannt. Theo Glück unterstützte damals die ersten jungen Ersatzdienstleistenden. Es gibt ein Gruppenfoto von 1961. Walter beriet dann seinerseits junge Männer, die verweigern wollten. Teilnehmende des Zooms erinnerten sich und regten einen Erzählabend zu den damaligen Erfahrungen der jungen Wehrdienstverweigerer an.

Walters Familie geht zurück auf die „Schweizer Brüder“, wahrscheinlich auf einen Jakob Kaufmann, der 1603 in Dürnten im Kanton Zürich geboren wurde. Über Bern und das Elsass kam die Familie in den Kraichgau, wo ein David Kaufmann 1710 Pächter auf dem Ursenbacher Hof nahe Sinsheim wurde. Dort wurde 1766 der Sohn Heinrich geboren, der 1821 auf dem Glashof bei Bödigheim im Bauland starb. Sohn, Enkel und Urenkel namens Heinrich wurden dort geboren. Der Urenkel, Walters Großvater, zog auf den Reuthehof bei Überlingen, wo 1899 Walters Vater Rudolf geboren wurde. 1915 zog die Familie auf den Eschbacherhof in Bad Krozingen, wo Walter 1937 geboren wurde.

Während Vater Rudolf in den Frankreichfeldzug eingezogen war, konnte sein im 1. Weltkrieg dienstunfähig erkrankter älterer Bruder Heinrich mit einem Knecht auf dem Hof bleiben, bis er in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen wurde. Der umsichtige Truppenführer schickte die Gruppe nach Hause. 40 km lief Onkel Heinrich mit einer Heugabel auf der Schulter neben einrückenden französichen Panzern nach Bad Krozingen zurück. Der jüngere Onkel Ulrich leistete Wehrdienst. Drei Tanten waren Krankenschwestern. Es gibt Fotos von Vater Rudolfs Sanitätseinsatz. 1940 wurde er vom Kriegsdienst frei gestellt und für die sogenannte „Ernährungschlacht“ auf seinem Pachthof in Bad Krozingen verpflichtet. Bis in die Nacht half er mit seinen Maschinen auf den Feldern der anderen Bauern aus, die eingezogen waren. Walter fuhr schon bald den Trecker. Weil Zucker dringend gebraucht wurde, um Obst zu konservieren, baute Rudolf Kaufmann die arbeitsintensiven Zuckerrüben auf einem zusätzlichen Feld an, das der Schlossbesitzer zur Verfügung stellte. Für jede Familie im Ort zweigte er von der Liefermenge für die Zuckerfabrik etwas ab. Walter durfte dazu ein Rezept aushändigen, wie Zuckersirup hergestellt werden konnte. Das war schon nach Kriegsende und war gegen die Regeln der Rationierung. Es brachte Ärger mit der Verwaltung.

1943 kam Walter in die Schule. Ab der 2. Klasse 1944 gab es immer häufiger Fliegeralarm, so dass sie in den Keller der Schule mussten. Im Herbst 1944 endete der Unterricht abrupt und begann erst wieder 9 Monate später unter der französichen Besatzung. Einmal fuhr Walter mit dem Fahrrad etwas weiter weg, als Tiefflieger Geschosse wie Funkenteppiche abwarfen. Erstarrt blieb er stehen. Eine Frau zog ihn in ihren Keller. Nach 10 Minuten gab es Entwarnung und er konnte nach Hause fahren. Sein Vater lief ihm entgegen und schloss ihn erleichtert in die Arme. Es war ihm nichts passiert. Aber bei diesem Angriff wurden 18 junge Soldaten getötet, die dann in Bad Krozingen beigesetzt wurden. Wenn der 9jährige Walter auf dem Friedhof das Grab seines 1946 früh verstorbenen Vaters besuchte, ging er auch an den Gräbern der jungen Soldaten vorbei. Es war ihm schrecklich, dass so junge Menschen sterben mussten und deren Eltern ihre Söhne verloren hatten. Beim Schulabschluss wählte er deshalb für seinen Pflichtaufsatz unter drei Themen den Titel aus: Ein Spaziergang über den Friedhof.

Der Nachbarhof wurde bombardiert. Dabei starb die Tochter der Familie, die so alt war wie Walters Schwester. Der Vater wurde schwer verletzt unter den Trümmern hervorgezogen. Walters Vater leistete erste Hilfe und versorgte dann deren Tiere. Nach Kriegsende spielten einige Jungs mit Phosphorstäbchen, die sie aus liegengebliebenen Panzerfäusten aus einem nahen Panzergraben zogen und anzündeten. Ein etwa 12jähriger Junge hatte viele in seine Taschen gesammelt. Er wurde von der Leuchtrakete eines anderen Jungen getroffen, die seine Stäbchen in Brand setzten. Er starb noch in der Nacht. Auf dem Schulweg am nächsten Tag gab ein Mitschüler Walter zu verstehen: „Wenn es dich getroffen hätte, wärst du nicht in den Himmel gekommen.“ Walter war ja nicht katholisch wie fast alle Bewohner im Ort.

Als der Krieg zu Ende war, übernahm Rudolf Kaufmann das Amt, auf allen Höfen Lebensmittel einzusammeln für die Versorgung der französichen Besatzungstruppen. Das habe er mit großer Barmherzigkeit ausgeführt und lieber mal ein Tier aus seinem eigenen Stall abgeliefert. Aus der Trauerpredigt des befreundeten evangelischen Pfarrers, die erhalten ist, geht hervor, dass er weitere Ämter, die man ihm gerne übertragen hätte, ablehnte.

Die Präsentation mit weiteren Informationen gibt es bei Walter Kaufmann walterkaufmann@t-online.de,  Andrea Kuhls Andrea.kuhls@jkuhls.de oder Elisabeth Kludas <Elisabeth.Kludas@t-online.de>

Der nächste Termin am Montag, dem 02.12.2024, führt mit einer besonderen Familiengeschichte in die Schweiz:

Werner Reichart aus Dürrenäsch im Kanton Aargau berichtet über Samuel Fröhlich aus Brugg im Kanton Aargau, über seine Vorfahren und Nachkommen. Samuel Fröhlich ist der Begründer der Neutäufer / Fröhlichianer / Nazarener. Mitte des 19. Jahrhunderts missionierte er im süddeutschen Raum und zog viele Mennoniten in seine Nachfolge, unter anderen Schmutz, Bär, Binkele, Hörr, Eschelmann, Fellmann, Schenk, Schneider, Kaufmann. Die evangelischen Täufergemeinden ETG und die wenig bekannten Altmennoniten gehen auf ihn zurück. Wer war dieser Samuel Fröhlich?

Wie immer von 19:30 – 21 Uhr, Einwahl über