Erzählabend zur NS-Zeit: Flucht, Euthanasie und Erinnerungen an den Widerstand
Der erste Erzählabend mit Erinnerungen von Zeitzeugen, Forschungen und Überlieferungen aus der NS-Zeit fand am 07.10.2024 unter reger Beteiligung und lebhaftem Austausch statt.
Jean Hege, geboren 1936 auf dem Schafbusch im Elsass, erzählte, wie er 1942 mit 6 Jahren in die deutsche Grundschule kam, während seine älteren Geschwister französich unterrichtet worden waren. Drei Kilometer ging er jeden Schultag vom elterlichen Hof Schafbusch nach Wissembourg und wieder zurück. Unterwegs kamen die Cousins von Geisberg dazu. Sie kamen an einer Kaserne vorbei, wo sie mit Heil Hitler grüßen mussten, ebenso fing der Unterricht morgens mit Heil Hitler an. Im zweiten Schuljahr in einem anderen Gebäude hatten sie eine freundliche Lehrerin aus dem Elsass. Zwei seiner jüngeren Geschwister hatten besonders strenge deutsche Lehrer. Bei Fliegeralarm mussten alle in den Schulkeller, wo man Lichtbilder schaute. Die Schule wurde nicht bombardiert, aber einmal flogen Tiefflieger auf dem Heimweg über sie hinweg, als sie sich glücklicherweise gerade unter einem Baum befanden.
Zuvor war die ganze Familie nach Zentral-Frankreich evakuiert worden, weil man Kriegshandlungen an der nahen Maginot-Linie erwartete. 1940 kehrten sie zurück zum Schafbusch. 1942 wurde sein ältester Bruder Ernst zum Militärdienst eingezogen und zweimal nach Russland an die Front geschickt, wovon er beide Male leicht verwundet zurückkam. Er machte dann einen Unteroffizierskurs in Deutschland, um nicht wieder an die Front zu müssen. Er desertierte einige Wochen vor Waffenstillstand und fand zu seiner Familie, die inzwischen in Deutschland war. Sein zweiter Bruder wurde 1943 eingezogen, um erst in Polen, dann in Italien Brücken zu bauen und beim Überqueren der Flüsse zu helfen. Er kam aus amerikanischer Gefangenschaft zurück auf den Schafbusch. Sein dritter Bruder René wurde 1940 wegen des französichen Vornamens in Heinz umbenannt. Er kam 1944 mit 17 Jahren zum Volkssturm, wo man ihn an der Schweizer Grenze einsetzte. Die Schweizer öffneten die Grenze im letzten Augenblick und nahmen die Deutschen gefangen. Mit kahlgeschorenem Kopf kam er zurück auf den Schafbusch.
Bei der Ernte mussten kriegsgefangene russische Offiziere aus dem Lager von Steinseltz helfen. Sie sangen oft auf dem Hin- und Heimweg. Auch Gefangene aus Indien und ältere Schüler, die einige Zeit auf dem Schafbusch wohnten, mussten helfen. Gegen Kriegsende flüchtete die gesamte Familie auf den Willenbacherhof im Kraichgau zu Verwandten, und als dieser Hof abbrannte, weiter auf den Lautenbacherhof. Schwierig war die Rückkehr ins Elsass Ende Mai 1945, weil sie ja freiwillig in Feindesland gezogen waren. Man bescheinigte der Familie schließlich, sie sei zwangsweise ausgereist.
Die Präsentation ist erhältlich bei Jean Hege jeanhege@vialis.net oder Elisabeth Kludas Elisabeth.Kludas@t-online.de
Weiter am selben Abend berichtete Raphael Zeisset, der die Erzählabende angeregt hat, über Euthanasie in der Familie Zeisset an der 48jährigen Lydia Zeisset, geboren 7. September 1892 in Salem am Bodensee, ermordet 1940 in Grafeneck auf der schwäbischen Alb. Ihr Vater, der Landwirt Jakob Zeisset aus Aschhausen / Württemberg, arbeitete für eine Chemiefabrik in Frankfurt am Main, die in Mazedonien, damals Osmanisches Reich, Ländereien für den Mohnanbau zur Herstellung von Opiumderivaten bewirtschaftete. Jakob überwachte zunächst die Arbeit dort im Auftrag der Firma, pachtete dann aber Land und zog um etwa 1885 nach Palikura im heutigen Nordmazedonien (damals osmanisches Reich) und gründete dort seine Familie. Er baute auf 20 qkm vorwiegend Kartoffeln, Mais und Mohn an und war ein erfolgreicher Landwirt. Im Zuge der Balkankriege und des ersten Weltkriegs verlor die Familie ihren Besitz und insbesondere die beiden Töchter mussten traumatische Erfahrungen durchmachen. Bekannt ist, dass ein Mitarbeiter im Stall erschlagen wurde, dass Jakob seinen Besitz mit der Waffe gegen marodierende Banden verteidigte und dass die Gebäude weitgehend zerstört wurden. 1914 wurden sie ausgewiesen, kehrten im März 1916 nach Palikura zurück und versuchten (vergeblich) ihren Besitz zurück zu erhalten. Nach Kriegsende 1918 lebten Teile der Familie in Überlingen, wo die Eltern der Ehefrau Jakobine Teuscher im nahen Salem lebten.
Lydia wurde psychisch krank und war erstmals 1916 in einem Sanatorium und 1918 in einer privaten Heilanstalt. 1922 und 1926 war sie in der Heil- und Pflegeanstalt Reichenau bei Konstanz. 1923 wurde sie durch Gerichtsbeschluss wegen „Geisteskrankheit“ entmündigt und die Mutter übernahm die Vormundschaft. Soweit Lydia nicht in psychiatrischen Kliniken war, wohnte sie zu Hause und wurde durch ihre Familie betreut und gepflegt.
Am 1. Januar 1934 trat das durch die Nationalsozialisten beschlossene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Daraufhin zeigte der durch die Nationalsozialisten eingesetzte neue Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Reichenau, Arthur Kuhn, Lydia Zeisset im März nach dem Erbgesundheitsgesetz an, obwohl sie zu dieser Zeit nicht Patientin der Anstalt war.
Diese Anzeige hatte ein staatliches Verfahren vor dem durch die Nationalsozialisten eingerichteten sogenannten „Erbgesundheitsgericht“ zur Folge, mit dem Ziel als „erbkrank“ verurteilte Menschen zwangszusterilisieren.
Ab 1935 bis 1939 wurde sie mehrfach wegen „Erbkrankkheit“ zur Unfruchtbarmachung einbestellt. Jedes Mal wurde bescheinigt, dass sie nicht operationsfähig sei. Die Mutter schrieb 1935 an das Gericht, sie sei nicht in der Lage, den Aufenthalt in einer Irrenanstalt zu bezahlen und müsse für etwaige Folgen des Eingriffs das Erbgesundheitsgericht verantwortlich machen. Das Amt als Pfleger übernehme sie selbst. Kurz vor dem Tod beider Eltern wurde Lydia in der Anstalt Reichenau wieder aufgenommen. Am 27. Juni 1940 habe man sie in die Anstalt Zwiefalten entlassen. Das war eine Zwischenstation vor der Ermordung in der Tötungsanstalt Grafeneck. Von dort wurde erst neun Monate später, am 30. März 1941, dem Erbgesundheitsgericht mitgeteilt, Lydia Zeisset sei am 27. Juli 1940 verstorben.
Zwischen dem 7. Mai 1940 und dem 21. Februar 1941 wurden im Rahmen des „Euthanasie“-Programms, der nach dem Krieg genannten „Aktion T4“, 508 Menschen aus der Pflegeanstalt Reichenau in den Tötungsanstalten Grafeneck (Schwäbische Alb) und Hadamar (bei Limburg an der Lahn) ermordet. Die Todesbescheinigungen wurden willkürlich datiert, um zu vermeiden, dass in den Herkunftsorten eine Häufung von Todesfällen auffiel
Raphael Zeisset erfuhr von Heinrich Funck von Tabertshausen am 23. März 2024, dass er einen schulunfähigen Onkel Helmut Funck hatte, geboren 1916, der lange bei seinen Eltern Christian Funck oo Elisabeth Fellmann und danach in einer Anstalt lebte. Er wurde rechtzeitig von der Familie nach Hause geholt, überlebte und verbrachte seine letzten Lebensjahre im Altenheim der Mennoniten in Regensburg.
Die Präsentation ist erhältlich bei Raphael Zeisset raphael.zeisset@gmx.net oder Elisabeth Kludas Elisabeth.Kludas@t-online.de
Der nächste Termin ist am Montag, dem 04.11.2024, wieder mit einem Erzählabend:
Rüdiger Fellmann, geboren 1930 in Mönchzell bei Sinsheim erinnert sich an seine Jugend auf dem Hof, auf dem polnische und russische Menschen samt Kindern arbeiteten. Vater und Großvater handelten mit jüdischen Großhändlern. Sein Vater war nebenberuflich Bürgermeister von Meckesheim und setzte sich für Menschen ein.
Walter Kaufmann, geboren 1937 in Bad Krozingen bei Freiburg berichtet Erinnerungen von seinem Vater als Pächter in Bad Krozingen, der aus mennonitischer Überzeugung keinen Dienst an der Waffe leistete, und wie ihn das Vorbild seines Vater für den eigenen Lebensweg geprägt hat.
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