Geschichte und Genetik der brasilianischen Mennoniten
Am 7. Februar 2022 war die Biologin Professor Angelica Boldt, Universidade Federal do Paranà, Brasilien, Gast-Referentin beim Zoom-Abend zur Mennonitischen Familienforschung. Spannend und kenntnisreich verknüpfte sie Einwanderungsgeschichte und Erbkrankheiten, die gehäuft in Mennonitenfamilien in Brasilien vorkommen.
Es gibt drei große Einwanderungswege, über die Gruppen von Mennoniten in den 1930er Jahren wegen schwerster Verfolgungen unter Stalin aus Russland und der Ukraine nach Brasilien kamen. Sie siedelten in Brasilien in je eigenen Gebieten (Curitiba und Siedlung Witmarsum im Bundesland Paraná und Colônia Nova an der Grenze Uruguays) und heirateten innerhalb ihrer Gruppe. Dadurch lassen sich unterschiedliche Gesundheitsfolgen heute noch feststellen: Sowohl Folgen durch gemeinsame genetische Varianten (vom selben Vorfahren geerbt) als auch Folgen durch epigenetische Varianten (aus gemeinsamen Traumatisierungen auf den jeweiligen Fluchtwegen). Sie wirken in den Kindern, Enkeln und Urenkeln weiter.
1929 erhielten Mennoniten, die auf ihre offizielle Entlassung durch die sowjetischen Behörden in Moskau warteten, die Erlaubnis, nach Deutschland auszuwandern, insbesondere durch die Intervention des deutschen Botschafters Otto v. Auhagen. Die überwiegende Mehrheit wurde jedoch nach Sibirien deportiert. Aus Deutschland wanderten diese Mennoniten nach Kanada (damals waren es im Vergleich zu den Vorjahren vergleichsweise wenige und nur die als gesund geltenden), und nach Paraguay und Brasilien aus. In Paraguay haben sie extreme Hungersnöte und Krankheiten wie Typhus durchgemacht. Aus diesem Grund wanderten wieder viele Mennoniten trotz der garantierten Befreiung vom Militärdienst aus Paraguay nach Brasilien aus.
In Brasilien brachte schon Anfang 1930 die Hanseatische Gesellschaft die Mennoniten, die direkt aus Deutschland kamen, zunächst dazu, eine extrem gebirgige und regenwaldbedeckte Region am Fluss Krauel zu besiedeln. Diese Kolonie löste sich später auf, und die Mennoniten suchten die Ebenen von Colônia Nova an der Grenze zu Uruguay, das Campos Gerais-Plateau für die Witmarsum-Kolonie und die Außenbezirke der Stadt Curitiba, der Hauptstadt des Bundesstaates Paraná, um zu leben.
Eine dritte Gruppe floh aus den Grenzregionen zu China über den Fluss Amur. Ganze Dorfgruppen überquerten heimlich nachts in langen Trecks den zugefrorenen Fluss und kämpften sich durch bis Harbin in Nordost-China zum amerikanischen Konsulat. Extremer Hunger – drei Jahre lebten sie von Suppe aus Kartoffelschalen – war ihr Begleiter. Schließlich konnten sie nach Paraguay und Brasilien auswandern. Sie haben die höchste Häufigkeit an gesundheitlichen Traumafolgen, insbesondere an Herzerkrankungen.
Konzentrierter Genpool
Zusätzlich beeinflusste das Flaschenhalsphänomen in den 500 Jahren mennonitischer Wanderungsgeschichte mehrfach das genetische Erbe. Füllt man ein Glas aus einer Flasche, lässt der Flaschenhals nur einen Teil des Inhalts durchfließen. Der kann anders in Zusammensetzung und Konzentration sein als das, was in der Flasche zurückbleibt. Das passiert mit dem genetischen Pool bei Auswanderungen. Zudem überlebte nur ein Teil der Schweizer Täufer ihre Verfolgung und Vertreibung im 17. Jahrhundert. Beides reduzierte die Vielfalt des genetischen Erbes gegenüber dem vorherigen größeren Pool. Außerdem gründete man Familien nur innerhalb der Gruppe. Ein Teil von ihnen und ein Teil der niederländischen Täufer zogen nach West- und Ostpreußen und heiratete nach anfänglicher Trennung untereinander. Das Weiterziehen eines Teils von dort nach Russland und in die Ukraine auf Wunsch von Katharina der Großen von Russland Ende des 18. Jahrhunderts reduzierte wiederum die Vielfalt. Die Flucht aus Stalins Sowjetunion gelang nicht allen und reduzierte noch einmal die genetische Vielfalt. Viele Menschen erlitten schwerste Traumatisierungen, die bis heute zu Krankheiten führen können.
Die nachfolgenden Generationen der mennonitischen Einwanderer in Brasilien leiden in deutlich höherem Maße als die Allgemeinbevölkerung an Bronchialasthma (15% vergl. 4%), Schilddrüsenfunktionsstörung (12% vergl. 1%), Arthritis (8% vergl. 1%), Depression (21% vergl. 7%) und Krebserkrankungen (14% vergl. 2%). Die zunehmende Häufigkeit dieser Krankheiten ist auf gemeinsame genetische Varianten, den Einfluss epigenetischer Varianten aufgrund von Vorfahrenerfahrungen und auf die aktuelle Umwelt zurückzuführen.
Zöliakie bei Mennoniten
Für Mennoniten in Deutschland ist besonders das hohe Vorkommen von Zöliakie von Bedeutung. Das Gluten, Bestandteil des Weizens, lässt bei Betroffenen die Darmzotten verschwinden, die nötig sind, um verdaute Nahrung aufzunehmen. Die Krankheit zeigt sich als „Chamäleon“, wie Renate Guth sagte, mit sehr vielfältigen Mangelerscheinungen bis hin zu Krebs, auch psychischen Störungen. Unter Mennoniten in Brasilien tritt Zöliakie bei 1 von 29 Personen auf. Dies ist die zweithöchste Prävalenz von Zöliakie weltweit. Bei brasilianischen Mennoniten ist die Häufigkeit prädisponierender genetischer HLA-DQ-Varianten viel höher als in der Allgemeinbevölkerung und sogar höher als in europäischen Bevölkerungsgruppen, etwa der belgischen, die allgemein eine hohe Häufigkeit haben. Da Zöliakie anscheinend in allen Mennonitengruppen vermehrt auftritt im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, müssen die Gene, die es verursachen, älter als die Vertreibungen der Täufer sein. Die Hälfte der brasilianischen Mennoniten mit Zöliakie ist sich jedoch nicht bewusst, dass sie die Krankheit hat. Die Gen-Expression, also die Frage, wie sehr die Zöliakie-Gene sich auswirken, wird von Ernährung, Lebensweisen und Lebensgeschichten beeinflusst. Unklare Beschwerden bei Mennoniten, auch Verhaltensstörungen bei ihren Kindern, sollten Anlass geben, sie auf Zöliakie zu untersuchen.
Lebenslange glutenfreie Ernährung ist bisher die einzige Therapie. Renate Guth, Ernährungsmedizinische Beraterin VFED, die Jahrzehntelang unerkannt unter Zöliakie litt, hat bereits 1996 ein Kochbuch für glutenfreie Ernährung verfasst. Es ist noch erhältlich bei renate.guth1@gmx.de
Professor Angelica Boldt hat einen genehmigten und finanzierten Auftrag zur breiten Forschung über die besonderen Erkrankungen bei Mennoniten in Brasilien, der auch auf Bolivien und Paraguay ausgeweitet werden soll.
Dass Traumafolgen über Generationen zu Gesundheitsproblemen führen können, wurde u.a. bereits bei Holocaust-Überlebenden nachgewiesen und bei den im Hungerwinter 1944/45 in Holland geborenen Kindern.
Warum vererben sich Traumafolgen über mehrere Generationen?
Unsere DNA enthält alle Erbinformationen. Damit sich eine Blutzelle von einer Hautzelle unterscheidet, muss ein Teil der DNA verschlossen werden, indem Histone (Eiweiße) angelagert werden. Sie verhindern, dass die Gene abgelesen werden. Dieser Mechanismus differenziert nicht nur die Körperzellen, sondern wirkt auch bei Traumatisierungen mit. Teile der DNA werden durch Histone verschlossen an die nächste Generation weitergegeben.
Kann man Histone wieder lösen? Grundsätzlich ja, aber wir wissen noch wenig darüber. Eine Möglichkeit ist ein psychotherapeutischer Prozess der zu einer umfassenden Vergebung führt. Angelica Bolts Mutter, eine Psychologin, hat damit Erfahrung. Sie ist bereit, uns an einem der kommenden Zoom-Abende (immer am 1. Montag des Monats von 19:30 – 21:00 Uhr) darüber zu berichten.
Familienforschung
Am nächsten Zoom-Abend am Montag, dem 7. März von 19:30 – 21:00 Uhr, wird leider Gary Waltner nicht wie geplant zur Verfügung stehen. Aber wir freuen uns sehr auf Sibylla Hege-Bettac, frühere Schriftführerin des Mennonitischen Geschichtsvereins, die auf dem Messerschwanderhof wohnt und über „Die Geschichte des Messerschwanderhofes und der Mennonitenfamilie Rubel“ erzählen wird.
Einwahldaten unter mennonitischer-geschichtsverein.de/mennonitische-familienforschung-per-zoom/