„Was wir sind, hängt auch davon ab, was unsere Vorfahren waren und erlebt haben.„
Am 04.03.2024 gab Angelica Boldt, geborene Winter, im Zoom zur Familienforschung ein Update zu ihrem Vortrag vom 07.02.2022 über das Mennongen-Projekt. Damals zeigte sie, wie Geschichte und Genetik die Gegenwart der Mennoniten-Gruppen in Brasilien prägen. Sie hat als Biologin in Humangenetik in Tübingen promoviert und forscht als Genetikerin seit 2013 an der UFPR (Universidade Federal do Paraná) in Curitiba, der ältesten Universiät Brasieliens, Ihre Themen sind häufige Erkrankungen wie das metabolische Syndrom (u.a. Übergewicht, Bluthochdruck, Zucker- und Fettstoffwechselstörungen) und die Zöliakie, eine schwerwiegende chronische Autoimmunkrankheit, die durch Gluten, einen Inhaltsstoff von Getreide, ausgelöst wird. Sie ist bei Mennoniten besonders häufig. Die Mennoniten in Brasilien haben die weltweit zweithöchste Erkrankungshäufigkeit (1:29) und nur etwa die Hälfte der Betroffenen kennt ihre Diagnose (Oliveira et al. 2023). Angelica Boldt vergleicht die Häufigkeit der Erkrankungen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Brasilien und international und sucht nach Hinweisen auf Ursachen. Diese zu kennen ermöglicht Erkrankungen vorzubeugen. Insbesondere Traumatisierungen in den Vorgenerationen, wie schwere Fluchterfahrungen und andere schwerwiegende Erfahrungen, etwa Krieg und Erdbeben, die nur ein Teil der Bevölkerung überlebt, werden mehr und mehr als Risikofaktoren identifiziert.
Auf zwei Wegen können sie zu erhöhten körperlichen und seelischen Erkrankungsraten in den Folgegenerationen führen: einmal genetisch durch das Flaschenhals-Phänomen, zum anderen epigenetisch über einen erhöhten Stress-Level. Ein Flaschenhals, der nur wenige Genvarianten durchlässt, vermindert die vorher in einer Bevölkerungsgruppe vorhandene Vielfalt. Das geschieht, wenn bei Katastrophen nur wenige Elternpaare übrig bleiben. Die nachwachsende Generation hat ein anderes genetisches und epigenetisches Erbe. Eigenschaften und Merkmale können dann verschwunden sein oder häufiger vorkommen. Das wird Gründer-Effekt genannt.
Dazu kommt, dass traumatische Erfahrungen das „Lesen“ von Geninformationen auf der DNA verändern können, indem sie DNA Sequenzen verschließen oder öffnen bzw. Histonproteine, um die sich die DNA windet, verdichtet oder entspannt . Diese Veränderungen können an die Folgegenerationen weitergegeben werden. Dazu gehört insbesondere die gesteigerte Stress-Reaktion, die zum metabolischen Syndrom und zu Depression führen kann. Depression ist unter brasilianischen Mennoniten viermal häufiger als unter Brasilianern allgemein.
Angelica Boldt erläuterte die komplexen Wanderungesbewegungen der Mennoniten von Friesland im 16. Jahrhundert nach Holland, nach Polen, später nach Russland und von dort auf verschiedenen Wegen nach Amerika, teils über Kanada, Mexiko, Mittelamerika in verschiedene Staaten in Südamerika. Diese Wanderungen führten immer wieder zu Flaschenhälsen mit den nachfolgenden Gründer-Effekten. Als Angelica Boldts Vorfahren 1929 mit viel Nachdruck der deutschen Presse als letzte Gruppe aus der Sowjetunion auswandern durften, konnten sie wählen zwischen Brasilien und Paraguay. Kanada nahm keine Mennoniten mehr auf. Paraguay gewährte Freiheit vom Wehrdienst, aber das Überleben dort war sehr viel schwerer als in Brasilien, wo am Ende die Wehrfreiheit nicht gewährt wurde. Um nicht zu verhungern, überquerten die Familie Boldt und andere paraguayischen Mennoniten schließlich auf Baumstämmen den Paraguayfluss und erreichten völlig ausgemergelt Brasilien.
Seit einem Jahr arbeitet Angelica Boldt mit Mennoniten in Bolivien. Sie schilderte einfühlsam und leidenschaftlich die Herausforderungen, unterstützt von Fotos. Einführend zeigte Angelica Boldt eine Filmsequenz von „Women talking“, auf Deutsch „Die Aussprache“. Der Film nach dem Roman von Miriam Toews wurde 2022 preisgekrönt. Er basiert auf dem Drama der Frauen in bolivianischen orthodoxen mennonitischen Siedlungen, deren juristische Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen ist. Allerdings gab es in der Realität keine „Aussprache“ der Frauen, wie sie der Film zeigt. Sie sprechen kaum untereinander. Das Schicksal dieser Frauen hat Angelica Boldt bewegt, nach Bolivien zu gehen mit dem großen Wunsch, den Frauen und Kindern zu helfen. Sie vermutet, dass Depression dort noch viel häufiger ist als unter brasilianischen Mennoniten.
Angelica Boldt erläuterte ihren Forschungsansatz, den sie auf die gesamte Bevölkerung bezieht. Fragebogen mit fast 800 Fragen helfen, Aussagen zu Häufigkeit und Ursachen von Erkrankungen zu machen. Über 900 Mennoniten beteiligen sich und haben die Fragebogen ausgefüllt. Gefragt wird auch nach den Umweltfaktoren in der Kindheit: ob die Kindheit warm oder kühl oder hart war. Ein aggressives Umfeld in der Kindheit erhöht das Risiko für das metabolische Syndrom. Körperliche Aktivität dagegen senkt das Risiko. Gemessen werden u. a. Blutdruck, Gewicht und Taillenumfang, Blut wird untersucht und ein Teil des Genoms, das verantwortlich ist für die Kodierung von Proteinen (ein Exom), analysiert. Den Teilnehmenden ist wichtig zu erfahren, wenn sie besondere Risiken haben, z.B. eine genetische Unverträglichkeit eines Narkosemittels. Sie können sich dann vor der Komplikation, aus einer Narkose nicht aufzuwachen, schützen.
Zu den Herzkreislauferkrankungen verglich Angelica Boldt die Häufigkeit bei Deutschen, Brasilianern insgesamt und Mennoniten in Brasilien für folgende Merkmale: erhöhte Blutfettwerte, Übergewicht, Bluthochdruck und Herzinfarkt. Bei allen hatten die Deutschen die höchsten Werte. Hohe Blutfettwerte waren bei Brasilianern nur etwa halb so häufig, im übrigen lagen die Häufigkeiten nahe beieinander. Die Herzinfarktrate unter den Mennoniten in Brasilien war auffallend gering. Es sieht so aus, dass durch Gründer-Effekte die Mennoniten in Brasilien einen Schutzfaktor gegen Herzinfarkt haben. Diejenigen Mennoniten, die dennoch einen Herzinfarkt erlitten, gehörten oft zur Gruppe derjenigen mit der traumatischsten Fluchtgeschichte in den Vorgenerationen.
Die präsentierten wissenschaftlichen Ergebnisse sind in der Filmaufzeichnung des Abends wiedergegeben. Wer sie haben möchte, meldet sich bei: elisabeth.kludas@t-online.de
Kurz ging Angelica Boldt auf die Studien einer nordamerikanischen Forschergruppe zur Häufigkeit von Asthma bei Kindern ein. Genetisch sind Amische und Hutterer nicht sehr weit auseinander. Amische Kinder haben fünfmal weniger Asthma als Hutterer-Kinder. Zurückgeführt wird der Unterschied auf unterschiedliche Lebensweisen. Die amischen Kinder kommen mit den Stäuben aus den Ställen schon früh in Berührung, weil die Ställe nahe beim Haus sind und Sauberkeit nicht so wichtig genommen wird. Die Stäube schützen vor Asthma. Hutterische Kinder wachsen unter hoher Sauberkeit auf. Die Ställe sind weit vom Wohnhaus entfernt. Die Studie wurde 2016 in The New England Journal of Medicine veröffentlicht.
Zu ihrem laufenden Projekt in Bolivien berichtete Angelica Boldt zunächst über die Wanderungsgeschichte der Mennoniten in Bolivien.1874 verließen sie Russland, als der Zar einen Wehrersatzdienst der Männer verlangte, und zogen nach Kanada. Als 1922 Kanada verlangte, dass in den Schulen Englisch gesprochen werden soll, zogen sie weiter nach Mexiko. Von dort zogen sie weiter nach Honduras, darunter ultraorthodoxe Gemeinden, und in den 1960er Jahren nach Bolivien. Dort wächst die Zahl der mennonitischen Siedlungen ganz enorm, besonders auch der ultraorthodoxen. In der Gegend der Hauptstadt Santa Cruz leben inzwischen auch viele nicht-mennonitische Deutsche. Es gibt supermoderne und extrem arme Distrikte. Für die Mennoniten mussten die Fragebögen ins Plattdeutsche (Plautdietsch) übersetzt werden und zwar so, dass sie für die Teilnehmenden mit ihren verschiedenen Dialekten verständlich waren. Oft mussten die Fragen vorgelesen werden, weil die Mennoniten Plattdeutsch nicht schreiben und lesen können. In ihren Schulen wird Luther-Hochdeutsch gelehrt. Es gelang mit großer Einfühlung und Sorgfalt, das Vertrauen der Frauen und Männer zu gewinnen. Auffallend ist die soziale Ängstlichkeit der bolivianischen Mennoniten, die sich nicht so sehr auf die Außenwelt, sondern mehr auf das Leben innerhalb der Siedlung bezieht. Nur in Einzelgesprächen konnten sich viele der an der Studie Beteiligten öffnen. Einige aus den traditionellen Siedlungen ausgetretene Mennoniten engagierten sich in Angelica Boldts Team und waren sehr hilfreich. Es gab auch überraschende Ereignisse. Ein Ehepaar war ungefähr 12 Stunden nach Santa Cruz de la Sierra gereist – zum gewöhnlichen Einkauf – und nutzte dann die Gelegenheit, von Angelica Boldt zu lernen. Der Mann, ein Masseur, sagte schließlich, die Zölliakie hätten sie in ihrer Siedlung und Angelica Boldt müsse unbedingt zu ihnen kommen. Photos, etwa mit Kliniken und mit Mennoniten aus Kanada und Russland, zeigten die vielfältigen Kooperationen. Ziel des Projekts ist es, mit interdisziplinären Interventionen die Lebensqualität der bolivianischen nicht-mennonitischen wie mennonitischen Bevölkerung zu verbessern. Ein Lehrinstitut für mennonitische Jugendliche, die gefährdet sind unterzugehen, ist ein neues Ziel, für das jemand schon ein Grundstück zu schenken versprochen hat.
Ostermontag ist kein Zoom. Der nächste Termin ist am 06.05.2024 mit Anne Schmidt-Lange, die u.a. in Pennsylvania Mennonite Heritage publiziert. Sie berichtet über ihre amische Familie Augspurger, über die Zeit im Elsass, den Anfang in Pennsylvania 1817 und – nach einem Zwischenaufenthalt in Europa – in Ohio als Leiter einer amischen Gruppe ab 1819.
Wie immer von 19:30 – 21 Uhr, Einwahl über https://www.mennonitischer-geschichtsverein.de/mennonitische-familienforschung-per-zoom/